F70_BreuerFrot_2A_4102-2_21HC.inddBuchbesprechung

Das emotionale Unternehmen

Untertitel: Mental starke Organisationen entwickeln / Emotionale Viren aufspüren und behandeln

(Anm.: Organisationales Immunsystem stärken für hitzigere und frostigere Zeiten – so hätte der Untertitel auch heißen können. )

Erschienen im Springer Gabler Verlag, 2010, 2te Aufl. 2012 / von Jochen Peter Breuer und Pierre Frot

Konflikte als emotionale Viren zu betrachten fängt meine Aufmerksamkeit ein, obwohl das Cover nicht unbedingt auf den spannenden Inhalt verweist. Beim ersten Durchblättern stieß ich auf die Formulierung: Die Berater agieren wie Mediatoren…(S.187f.) Da beschloss mein Mediator-Ich, das Buch zu lesen und zu besprechen.

Um was geht es?

Konflikte oder emotionale Viren sind die Hauptverursacher für stockende Prozesse und gescheiterte Projekte. Kulturelle wie emotionale Einflussfaktoren auf Entscheidungen wurden lange unterschätzt. Das Zeitalter des rein rationalen, „objektiv“ urteilenden Entscheidertyps ist aber (leider) noch lange nicht zu Ende – die Illusion lebt weiter, sie marodiert mitten unter uns und braucht dringend angemessene Betreuung. Der verstorbene Peter Kruse von nextpractice schrieb in seinem Vorwort zum Buch 2010:…“Die Auseinandersetzung mit dem Thema Kultur ist kein „Sahnehäubchen“ mehr, sondern eine Aufgabe von höchster Wichtigkeit…Nur eine Kultur, die einen tragfähigen gemeinsamen Identitätskern besitzt, ist in der Lage, die Bildung funktionierender Netzwerke zu fördern und damit den vollen Mehrwert der kollektiven Intelligenz des im Unternehmen vorhandenen Erfahrungswissens zu realisieren.“

Hört sich an wie der Wettbewerbsvorteil der mental starken Organisation der Zukunft, die (aus unserer Sicht) nur Wirklichkeit werden kann, wenn damit die Freude an der Entfaltung menschlicher Potentiale gemeint ist, denn nur das kann die Grundlage einer nachhaltig gesunden Unternehmenskultur sein. Wie umgehen mit Immateriellen Realitäten – das zentrale Thema des Buches.

Was ist die Intention der Autoren – Was ist Neu daran?

  • Die Autoren wollen: Die vielfältigen Dimensionen ihres Ansatzes aufzeigen / Angst vor Arbeit mit Emotionen nehmen / die Wahrnehmung für Unterschiede im Unternehmen schärfen / und natürlich: skeptische Entscheider von der befreienden Wirkung der emotionalen Viren-Jagd überzeugen
  • Ihr Ansatz macht Schritt für Schritt klar, dass eine Organisation als Ganzes genauso zur mentalen Stärke gecoacht werden kann, wie ein Individuum, um die Wirkung von nicht genutztem Potential zum Wohle des Unternehmens freizusetzen.
  • In der Nutzung der emotionalen wie kollektiven Intelligenz herrscht in vielen Unternehmen noch die Steinzeit. Es geht um die Ermutigung, wirklich neue Wege zu gehen.

Emotionen, die wahren Hard Facts

Je höher der Bildungsgrad, desto schwerer fällt das Eingestehen der Fremdbestimmtheit. Können Sie diese valide Aussage als taffer Manager ertragen, aushalten…aktivieren? – Emotionen, die eigenen und besonders die der Anderen, sind schwer zu steuern, zu kontrollieren. Sie haben ihre eigene Logik. Stress, Frustration, vielfältigster Leidensdruck wie Trauer, kann unser gesamtes Bewusstsein vereinnahmen, in Beschlag nehmen. Wir leben in solchen Momenten quasi in unseren Gefühlen, der physische Körper ist hormonell geflutet. Die sogenannten sozialen Emotionen sind daher die kritischen, unberechenbaren Faktoren in einer Organisation. Beispiel: geht es um Fragen der sozialen Gerechtigkeit gegenüber Mitarbeitern in Abwägung zum unternehmerischen Eigeninteresse, kann daraus schnell ein ethisch-moralisches Dilemma entstehen, das verantwortliche Führungskräfte täglich durchleben. Ruckzuck kann aus einer getroffenen Beurteilungs-Entscheidung eine Quelle für Kränkungen und Rachegedanken werden. Emotionen steuern unser Handeln und entziehen sich oft der Vernunft. Ein tägliches Übungsfeld. Gerade bei Fusionsprozessen unterschiedlicher Kulturen – oft leider nur theoretisch von Bedeutung.

Nur über das limbische System des Unternehmens kann die immaterielle Realität der Organisation beeinflusst werden…

Was sagt die Hirnforschung dazu? Kontrolle ist Illusion. Und trotzdem gibt es eine Focussierung des Managements auf das Kalkulierbare und Vorhersehbare mit der Konsequenz, Gefühle und Emotionen aus der Kalkulation zu eleminieren. (Die Finanzkrise 2008 grinst uns zu, setzt wieder die Blindenbrille auf und haut weiter Prognosen raus – siehe Präsidentschaftswahl 2016 in den USA: 100 prozentiger Irrtum aller Prognosen.)

Aus dem aufgezeigten Dilemma fragt der Manager: wie soll denn das gelingen, gleichzeitig zielorientiert zu sein, ständig messbare Ergebnisse vorweisen zu können, die Emotionen der Organisation anzusprechen aber nicht zu sehr in die Intimssphäre der Mitarbeiter einzudringen, Manipulationsängsten entgegenzukommen und parallel das Tagesgeschäft mit Aktionsplänen und Budgetkontrolle im Auge zu behalten?

Ist das nicht eine Qualifikation für die Eierlegende Wollmilchsau? JA …NEIN…Es gibt Hilfe und Unterstützung. Viele erfolgreiche Unternehmen arbeiten heute mit Coaches zusammen – gerade weil das Tagesgeschäft sie zeitlich total im Griff hat.

Aus dieser unterstützenden Entlastung gehen konkrete Erkenntnisse durch Erfahrungen hervor:

  1. Bei der Arbeit mit immateriellen Realitäten ist die notwendig aufzubringende Zeit nicht planbar ( to be Agenda free ist angesagt!)
  2. Weichen Faktoren ist mit harten Fakten nicht beizukommen ( Limbisches System sagt: Emotionen können nur mit Emotionen angesprochen werden!)
  3. Zeit für Selbstreflexion, Zeit zum Nachdenken ist das Gebot der Stunde. Veränderung gelingt nur, wenn sie den emotional richtigen Ton treffen, der Menschen bewegt, berührt. Ein Tagesausflug oder ein Tagesworkshop zum Teambuilding reicht nicht, um Vorurteile aus der Welt zu schaffen.
  4. Angst vor Kontrollverlust: mit kollektiver Verunsicherung umzugehen ist eine komplexe Aufgabe. Das Management muss die Vorstellung loslassen können, Durchsetzungsvermögen durch vorgegebene Zielerreichung zu demonstrieren.(Büchse der Pandora Syndrom) Mitarbeitern muss unbedingt die Gelegenheit gegeben werden, sich offen und ehrlich über ihre Zweifel, Ängste, Hoffnungen und Wünsche auszutauschen. Externe Professionelle Begleitung kann hier sehr sinnvoll sein.
  5. Die Qual der (Aus)Wahl bei der Begleitung von Veränderungsinitiativen: Groß oder eher Klein? Klar ist, dass die Qualität des Ergebnisses vom Kontext abhängt, in dem die sinnvollen Methoden eingesetzt werden, und von den Persönlichkeiten, der Haltung der Begleitenden. Daher ist klein und fein oft besser, weil persönlicher. Für die Autoren kann nur ein Organisationscoaching die Balance zwischen Spielerei und Bedrohung meistern.

Es ist eine Illusion zu glauben, irgendwelche Einzelmaßnahmen würden eine nachhaltige Wirkung erzielen. Storytelling auf der Basis einer gemeinsam entwickelten Vision, die die ganze Organisation emotional einbindet – ein noch ziemlich neuer Veränderungsansatz mit großer Wirkung. Open Space, Word Cafè, Belief Audits, Dynamic Facilitation, Fishbowl, Mediation, Nextexpertizer, Real Time Strategic Change, Zukunftskonferenz, Unternehmenstheater, Coaching… Es gibt bereits Methoden für wirksames Veränderungsmanagement, und der spezifische, maßgeschneiderte Mix macht`s.

Die Metapher der emotionalen Viren

Kurt Lewin ist verantwortlich für den Satz: Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie. (in Anlehnung an Immanuel Kant.) Umformuliert von den Autoren: Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Metapher. Betrachtet man die Organisation als emotionalen Organismus, sind emotionale Viren negative Emotionen oder Irritationen  ( in Erscheinungsformen wie Angst, Frustation, Misstrauen, Eifersucht, Gier usw.) mit Infizierungspotential, die das psychische Immunsystem des Einzelnen angreifen. Durch emotionale Ansteckung verbreiten sie sich und übernehmen die Macht über das Handeln – die Organisation gerät so in die Lähmung.

Der Nährboden für emotionale Viren sind kognitive Bewertungen von Unternehmenssituationen, die negative Emotionen auslösen.

Es gibt fünf Kategorien für das Entstehen emotionaler Viren

  • Machtkonflikte
  • Werte-oder Kulturelle Konflikte
  • Unsicherheit, Befürchtungen, Ängste
  • Vorgehensweise und Rahmenbedingungen der Veränderungsinitiative
  • Zerplatzte Gewissheiten und Träume

Jede Kategorie hat eine eigene Genese im Gesamtkontext, eigene Stories. Und es gibt spezielle sensible Methoden der Bearbeitung oder des Umgangs damit, die in einem Organisationscoaching-Auftrag mit den jeweiligen Führungskräften zu koordinieren sind. Das Wichtigste dabei ist aber die richtige Ansprache des limbischen Systems der Organisation. Wie der Neurowissenschaftler Antònio Damàsio durch seine Forschungen zeigt, liegt das Problem, um das sich bei der Bearbeitung von Emotionen alles Wesentliche dreht, darin, dass die handlungssteuernden Entscheidungen im limbischen System auf der Basis gelernter und zum Teil angeborener Bewertungen getroffen werden. Diese Ebene ist mit gut vorgetragenen rationalen Argumenten nicht zu erreichen – nur emotional.

Und genau das ist mit Sicherheit der Grund, warum viele Projekte, Gespräche und Firmenzusammenschlüsse letztendlich nicht gelingen, weil mangelnde Möglichkeit, Information oder Sorgfalt und selbstverständlich auch Ignoranz den Zutritt zu dieser wesentlichen emotionalen Sphäre verweigert. Die gewählte Strategie hat einfach nicht den richtigen Ton getroffen…

Es geht also immer auch – bei allem Faktischen – um die richtigen Worte, Gesten, Körpersprache, um Bilder und gute Visualisierungen, Erinnerungen, Respekt, um Storytelling, die Würdigung von Ritualen, um Rhythmen, um die Wahrnehmung und Würdigung der kulturellen Unterschiede…um die Kunst des Zuhörens, um Humor, um Sensibilität und Einfühlungsvermögen…um emotionale Intelligenz und Vertrauen. – All das macht die immaterielle Realität (be)greifbar, gibt ihr eine Form, ein Gesicht. Besonders Tabu-Themen sind anders nicht sichtbar zu machen, weil es oft auch um Scham oder sich schuldig fühlen geht. Besonders intime Momente in Konfliktgesprächen, die immer besonderen Schutz brauchen.

Es gibt in dem Buch viele nützliche und wirksame Methoden, die sehr ausführlich erklärt werden, auf die ich aber hier nicht näher eingehen will. Vieles ist bereits tägliches Handwerkszeug für Mediatoren. Coaching und Mediation sind sehr effiziente Interventionen – aber nicht in jeder Situation gewollt oder erwünscht. Und ohne Erlaubnis aller Beteiligten – kein Mandat. Dabei kann gerade die Rolle des All- oder Überparteilichen Vermittlers für alle betroffenen MitarbeiterInnen ein Segen sein – gibt es hier doch für sie die Möglichkeit wirklich offen zu sprechen.

Gerade komplexe Vorhaben in Unternehmen brauchen klare Prinzipien. Die Autoren haben dazu einen Mentalmerger-Prozess entwickelt, der in drei Phasen abläuft: Syndrom – Syntonie – Synergie: Kulturelle und mentale Bestandsaufnahme – Human Integration – Nachhaltigkeit implementieren. Es ist ein spezielles Workshop-Design, das äußerst gründliche Vortbereitung erfordert.

Ich lerne dazu: der Iditotengraben ist die am häufigsten vernachlässigste Komponente in einem Lern- und Veränderungsprozess. Kannte ich bisher noch nicht – macht aber sofort Sinn für mich.- Der Graben steht für die Schwierigkeit, etwas neu Gelerntes konkret in Situationen anwenden zu können. Warum?…Es liegt an den beiden „Paradiesen der Kompetenz“: Paradies 1 – Die unbewusste Kompetenz / Paradies 2 – Die unbewusste Inkompetenz. Die Lösung liegt – wie so oft – im ÜBEN, ÜBEN, ÜBEN. Und das verträgt sich oft nicht mit der Macht.

Fazit: Auch gegen Ende des wirklich sehr informativen, erfahrungsreichen und gut strukturierten Buchs Das emotionale Unternehmen landen die Autoren in ihren Schlussfolgerungen bei der Notwendigkeit, emotionale Intelligenz wirklich zu erforschen und zu leben. Selbstbewusstsein, Selbststeuerung, Empathie, Soziale Kompetenz, Selbstmotivation sind alles Begriffe, die jeder heutzutage im Unternehmensalltag hört. Aber was bedeuten sie in der Konsequenz, im Alltag der Routinen…?

„Wo das Vertrauen fehlt, spricht der Verdacht.“ Wusste bereits Laotse im 6. Jahrhundert vor Chr.

Wenn ein Unternehmen ein gesundes emotionales Immunsystem auf der Basis von Vertrauen ausgebildet hat, heißt: mentale Stärke entwickelt durch vorbildliche Beziehungsarbeit auf allen Ebenen ( wertschätzende Kommunikation, Sinn-Angebote, exzellente Konfliktklärung, Partizipation usw. usf.), kann mentale Verschmutzung nicht greifen, um die individuelle wie kollektive Effektivität zu lähmen. Die Immunabwehr ist zu stark, die Resilienz hoch.

Unbedingt lesenswert – auf jeden Fall für Coaches, Mediatoren und Entscheider auf der Suche nach wirklich guten Lösungen.

P.S.: Beim Schreiben der Rezension musste ich an ein anderes Buch denken, das seit langem eine der Grundlagen meines Emotions-Coachings ist: Den Dämonen Nahrung geben heißt es. Von Tsültrim Allione. Buddhistische Techniken zur Konfliktlösung. Was im rezensierten Buch die Metapher für emotionale Viren sind, ist hier der Dämon in Erscheinungsform der Angst, Agression, Versuchungen, Unwissenheit. Die Notwendigkeit der Transformation eigener Dämonen ist universal. Noch stärker als im Buch Das emotionale Unternehmen wird hier deutlich: Wegmachen geht nicht; wir müssen Emotionen in ihrer Tiefe und Botschaft begreifen, das Bedürfnis dahinter ergründen. Dann können sie ihren Platz finden oder sich auflösen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir leben in der Zeit von agil und intelligenten Netzwerken.